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Braunschweigs erste Veloroute

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Braunschweigs erste Veloroute kommt. Ende November sind die beiden Bezirksräte befasst, und am 6.12. soll die Vorlage bereits im Mobilitätsausschuss sein.

Die Veranstaltung beginnt zunächst fast eine ganze Stunde lang mit den Fragen der Straßen-Ausbaubeiträge. Das Thema wird von Frau Müller souverän erklärt. Betroffen sind Eigentümer auf 50 Grundstücken an der Helmsteddter Straßa ab der Parkstraße/Adolfstraße, jedoch auch auf der nicht betroffenen Kastanienallee. Das begründet sich im Verlauf der Straße aka: “verkehrstechnische Anlage”. Aufgrund gesetzlicher Festlegungen und Gerichtsurteile müsse ein Straßenzug zwischen großen Kreuzungen gemeinsam abgerechnet werden, umgekehrt dann bei einer eventuellen Erneuerung der Kastanienallee. Es sind meist vierstellige Beträge, mit denen die betroffenen Grundstückseigentümer an der Straßenerneuerung und am Ausbau beteiligt werden. Spannender ist die Frage, ob sie den Ausbau gut finden.

Auf über 50 Eigentümergrundstücke entfallen 558.000 €, der größte Einzelanteil davon entfällt jedoch mit mehreren hunderttausend Euro auf die Städtische Berufsschuleaufgrund des riesigen Grundstücks (unten rechts). Die anderen Anliegeranteile entsprechend geringer.

Eine Stunde über wenige tausend Euro Beitrag

Doch dann auf einmal ist Musik da:
Beim Beginn der inhaltlichen Vorstellung kommt es zu einem phänomenalen Augenblick. Verkehrsplaner Detlef Pottgießer steht am Mikrofon. Er beginnt in sich ruhend mit der Vorstellung des ersten Abschnitts, am Schloss. Am Ende seiner Worte möchte ein Kritiker der Pläne die Stimmung im Saal testen und fragt den deutlichen Satz:

“Warum wird die Eckertstraße überhaupt umgebaut, da sind doch Radwege?”
Mit einem Mal wird Pottgießer überraschend deutlich mit Blick auf den Fragenden.

“Wir machen Angebotsplanung”

“Die einfache Antwort lautet:
Wir machen hier eine Angebotsplanung.
Die Menschen nutzen Radverkehr nur, wenn sie auch ein vernünftiges Angebot bekommen.”

Tosender Applaus brandet durch den Saal, teils johlende Schreie und Freudenrufe.

Die Stimmung bleibt. Weit über 50 Unterstützer des Radverkehrs haben sich versammelt. Die Anwohner, die nur zu einem Teil dagegen sind, äußern sich lautstark beim Thema Parkplätze. Denn im Abschnitt zwischen Parkstraße und Hochstraße fallen Parkplätze weg, die nicht woanders neu geschaffen werden. In diesem Abschnitt wird die Straße am grundlegendsten umgestaltet.

Am Fotomuseum

Aber auch auf Schönheit und Stadtgestaltung wird geachtet. Am Photomuseum wird dies deutlich, man möchte den stimmigen Eindruck der Torhäuser nicht stören.
“Hier gilt es, im besonderer Weise darauf zu achten, dass wir keine verkehrstechnische Anlage schaffen, sondern einen Stadtraum.”

Die Last mit dem Auto und den Parkplätzen

Das Thema Parkplätze nimmt hier breiten Raum ein.
Sehr viel Verständnis wird denen entgegen gebraucht, die den öffentlichen Raum als eigenen Raum betrachten. Niemand kommt auf die Idee, dass der Staat und hier die Kommune nicht für alle privaten Probleme zuständig ist.

Ab Fotomuseum den Berg hoch: hier wird die unangenehmste Passage zum Besseren verändert

Doch man nimmt sich Zeit für die Fragen. Einer meint, es würden Leute inzwischen in der Parkstraße im Auto übernachten weil sie sich die hohen Parkgebühren in der Innenstadt nicht mehr leisten können. Es gibt Gelächter. Ein anderer möchte partout wissen, ob nun in der Fahrradstraße Parkstraße auch zukünftig beidseitiges Parken erhalten bleibt und wechselt dabei langsam in den Ton eines unangenehmen Verhörs. Dass er die Bedingungen für Radfahrer in der Parkstraße inakzeptabel findet, äußert er selbst.
Dafür hat die Sozialwissenschaft einen Begriff geprägt: Kognitive Dissonanz.

Parkplätze: Kognitive Dissonanz.

So verständlich der Wunsch nach Parkplätzen ist, so wenig kann man in einem dichten Stadtviertel diese herbeizaubern. Eine Anwohnerin möchte auf dem eigenen Grundstück ein Parkhaus mit Mietparkplätzen schaffen, doch das Thema Baugenehmigung ist komplex. Niemand ist ehrlich genug einzugestehen, dass etwas kostenlos öffentlich Nutzbares nicht unbegrenzt vorhanden sein kann. Auf den Einwand, Parkplätze müssten auch im Klimawandel und den ihn begegnenden Normen (eKlima-Richtlinie) erhalten bleiben, es gäbe schließlich auch E-Autos, entgegnet der Tiefbau:
“Wir machen uns Gedanken, wie wir das lösen, um für die E-Autobesitzer Platz zu schaffen, die die Sorge haben, dass sie Ihr Auto nicht mehr loswerden.” Das ist eines der wenigen Male, in denen der Respekt gegenüber den Autofahrenden nachlässt. Die wenigen Autofahrer erwecken hier sehr deutlich dem Eindruck, Autofahren sei eine einzige Last. Es stimmt, dass Grundstücke nicht über eigene Stellplätze verfügen. Doch Beispiele in vielen Ländern und schon vor den Toren Braunschweigs zeigen, dass es gelingt, den Parkplatz vom Haus abzukoppeln.

Zur Sprache kommen hier die verstreut über die Innenstadt öffentlichen Parkhäuser, die Pendelnden und Einkaufenden viele freie Parkplätze bieten. Die Stadtverwaltung macht aber deutlich, dass sie besonderes Augenmerk auf die Anwohner legt.
“Die Nutzergruppe der Pendler, die wollen wir da nicht haben. Für die ist es nicht sinnvoll, die im öffentlichen Straßenraum zu haben. Das hier ist eine Abwägungsentscheidung.
Die Lösung: Perspektivisch haben wir hier im Umfeld keine unbegrenzten Parkplätze. Da müssen wir mir Anwohnerparken und zeitlich Begrenzungen arbeiten.”

Parkplätze kein Teil der Daseinsfürsorge

Bei allem Verständnis für die Sorgen bleibt aber im Blick zu behalten: Je mehr Verständnis man aufbringt, desto kräftiger werden Wünsche formuliert und an eine Stadtverwaltung herangetragen. Manche Bürger sehen hierin sogar einen Anspruch an die Stadt. Parkplätze sind aber nicht Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge. Dazu zählen stattdessen eine funktionierende Verwaltung, Schulen und Kindergärten, Feuerwehr und Katastrophenschutz. Es kommen riesige Aufgaben hinzu: Wärmeplanung, Stadtbahnausbau, Flüchtlingsunterbringung.

Kreuzung Hochstraße / Kastanienallee / Helmstedter Straße

Eine der für die Veloroute am klarsten neu gestalteten Kreuzungen ist die an der Helmstedter Straße Ecke Kastanienallee. Hier wird für KFZ eine Relation wegfallen, die Richtung stadtauswärts zum Ring.
Den Grund dafür nennt Pottgießer eindringlich.
“Was haben wir hier gemacht? Eine Erfassung Durchgangsverkehr. Zeitscharf und minutenscharf werden Kennzeichen erfasst, wer fährt ein – wer kommt an. Wenn jemand in unter 1 1/2 Minuten dort auftaucht, dann ist das Durchgangsverkehr. 80% = Durchgangsverkehr. Wenn man DAS gesehen hat, fragt man sich WAS machen wir da eigentlich?”
Die Gegenrichtung hat nur 4% Durchgangsverkehr. Hier gilt es, Verkehr zu bündeln. In Richtung stadteinwärts ist Linksabbiegen den Berg hinab künftig nicht mehr möglich.

So schön sicher kann Radfahren werden.

Hier kommt ein weiterer Pottgießer-Moment.
Nach hartnäckiger Nachfrage zum Linksabbiegen eines Anwohners in Richtung Innenstadt in der Helmstedter Straße produziert Zwischenrufer “Fahren Sie doch mit dem Rad!”
Aber derjenige lässt nicht locker und führt die Bolchentweete an, und fragt nach einer möglicherweise änderbaren Fahrtrichtung. Der Gefragte verlangsamt seine Worte bedeutungsvoll:

“Wenn ich von der Bolchentweete in die Innenstadt möchte, KANN ich natürlich überlegen, welches VERKEHRSMITTEL ich nutze.”
Laute Lacher, Applaus. Die Strecke ist einfach viel zu kurz, um das Auto als optimales Verkehrsmittel zu sehen.

Publikumsfragen und Statements. Hier spricht Dr. Jens Schütte vom ADFC Braunschweig.

Was sagen die Aktiven im Radverkehr?

Im Verlauf des Abends gibt es wenige Wortmeldungen von denen, die die Veloroute einst mit ins Leben gerufen haben. Zum einen sind viele froh, dass es doch soweit gekommen ist, trotz der langen Wartezeiten, trotz der Fragen ob und wie es weitergeht. Zum anderen sollen hier, den demokratischen Gepflogenheiten folgend erst einmal die zu Wort kommen, die Sorgen haben. Auch sind längst drei Stunden vergangen.
Einer der dann doch das Wort ergreift ist Jens Schütte, er sagt: “Alle profitieren davon. Wenn die Veloroute da ist, werden wir auch weniger Autofahrer dort haben.” Ein Anwohner möchte gern Tempo 20 oder wenigstens Tempo 30 dort haben. Es ist gesetzlich nicht möglich, obwohl es so einfach wäre, in Berlin, im BMDV, die StVO zu ändern: “Streiche 50, setze 30”. Bei diesem Thema wird auch ein lang gedienter Mitarbeiter der Stadtverwaltung fast emotional. Wie viele Aufwand fiele weg, wenn man diese Entscheidung selbst verantwortlich vor Ort treffen könnte.

Thematisch geht es weiter mit der Kreuzung Altewiekring welche beidseitig signalisiert werden soll. Die Durchfahrt ohne Ampel in der Mitte bleibt erhalten. Über den Elise-Averdieck-Platz vor dem Marienstift, soll der Radverkehr möglichst gebündelt geführt werden. Die schwierige Lösung einer intuitiv erkennbaren Führung wirkt hier gut gelungen. Für 5,1 km lange Veloroute können insgesamt 17 Bäume nicht gerettet werden. Der Versuch aus dem Publikum, das wiederum als Aus-Kriterium zu stilisieren, misslingt ähnlich wie zuvor. Aufgrund nicht vorhandenen Platzes im Straßenraum sollen die Neupflanzungen für einen vollzähligen Ersatz allerdings vor allem in der Grünfläche Hochstraße sowie beim Straßenausbau in der Mastbruchsiedlung erfolgen. Der weitere Verlauf der Route mir ihren Tücken wird erörtert. Ab Hauptgüterbahnhof geht es deutlich weniger dramatisch und emotional zu.

Ende gut, alles gut – 22:30 zum Ende der Veranstaltung, vielen Dank an alle die da waren, auch wenn nicht mehr im Bild

Wie geht es weiter:
Der Rat mit gewählten Vertreterinnen und Vertretern der Stadt entscheidet das, genauer gesagt dessen zuständiger Ausschuss. Entweder die Leute im Tiefbau “habens gut gemacht, oder dann gibt es Änderungen, Wünsche, Teilaspekte.” Am Friedhof und bis zum Schöppenstedter Turm dauert es noch, es hängt am Stadtbahnausbau, der vor 2026 nicht beginnt. Von Adolfstrasse – bis Hauptgüterbahnhof – dieses ganze Stück wird zur Umsetzung im Jahr 2024 vorschlagen. Der Abend hatte um 18 Uhr begonnen, und erst um 22:30 fällt der Vorhang, zur Zufriedenheit der Anwesenden. Was für ein Erfolg.

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